Moto Guzzi

 
Artikel aus der Zeitschrift MOTORRAD Nr.10/79
TECHNIK UND TEST
Test Moto Guzzi 850 Le Mans II

Gewinne aus der Hubschrauber - Produktion hielten MV Agusta am Leben. Erfolg mit Landmaschinen finanziert Laverda Motorräder. Aus der Staatskasse nährt sich Ducati. Haben die Italiener, die den Motorrad- Freund mit soviel Faszinierendem belieferten, nur bei künstlicher Ernährung eine Überlebenschance?
"Der Wettbewerb, den Moto Guzzi 1972 mit anderen sportlichen Marken aufnahm, indem man erst die 750 Sport, dann die 750 Sport S 3 präsentierte, 

fand mit der 850 Le Mans und nun mit der neuen 850 Le Mans II seine Fortsetzung." Dieser Werbetext eines Moto Guzzi Prospekts charakterisiert die Modellevolution italienischer Prägung. Während die japanischen Marktbeherrscher dank großzügiger Investitionsmöglichkeiten im Nu eine ganze Modellpalette aus dem Boden stampfen können, bleibt Betrieben wie Moto Guzzi nur die stete Weiterentwicklung eines Grundmodelles. Diesen Werdegang absolvierte denn auch die kürzlich 

präsentierte Le Mans II. Interessanteste Neuerungen dieser Maschine: die sogenannte Integral-Verkleidung, eine zweiteilige Verschalung aus glasfaserverstärktem Kunststoff und ein verbessertes, Moto Guzzi-typisches Integral-Bremssystem. Besaß die erste Le Mans noch eine winzige Verkleidung, die allenfalls den Tachometer und den Drehzahlmesser vor Witterungseinflüssen schützen konnte, so tut die zweite Version schon etwas für den Fahrer.

Das Moto Guzzi-Integral-Bremssystem: Via Fußheben wird die hintere und die linke vordere Scheibe aktiviert

Die Seitenteile erinnern nicht nur an jene der SP 1000, sie entstammen auch diesem Modell und verfügen demgemäß über alle Eigenheiten, die schon an dieser Maschine moniert wurden. So hat eigentlich jeder Fahrer, gleich welcher Statur und Beinlänge, seine individuellen Probleme, die Knie auf die ihnen zugedachten Polster zu zwängen. Dem einen schlafen die Oberschenkel während der Fahrt ein, der andere kann die Fußhebel nicht mehr erreichen.

Einzig die am Lenker montierte Frontverkleidung vermag hohe Ansprüche zu befriedigen. Im Verein mit den Lenkerstummeln, die, tief und ein wenig vorgesetzt an den Standrohren der Gabel befestigt, eine geduckte Sitzhaltung zulassen, entlastet die Schale den Oberkörper des Piloten. Sie schützt die Hände und stört auch nicht durch übermäßige Verwirbelungen.


Sitzposition: betont sportlich, wenig Komfort
Die Sitzposition auf der Le Mans II ist betont sportlich. Ein wenig mehr Komfort könnte dennoch nicht schaden. Auf längeren Fahrten plagt die zu hart gepolsterte, zu schmale und mit lästigen Kanten ausstaffierte Sitzbank ihre Besatzung. Ansonsten stimmt die Lage des Fahrers, 

haben sich seine Knie erst mal mit den Seiten-Verkleidungen zusammengerauft. Die meisten, mehr als mittelgroßen Le Mans-Besitzer werden wohl ihre Beine aus der Verkleidung in den Luftstrom halten müssen.
Die Instrumentierung der Le Mans II, identisch mit jener der SP 1000 und wie dort in dle Frontverkleidung integriert, beinhaltet eine genaugehende Uhr, einen gut ablesbaren, aber etwas großzügig mit der Realität umgehenden Tachometer, einen optimistisch bis 10 000/ min reichenden Drehzahimesser und - zur Abrundung - ein Voltmeter. Immer noch gewöhnungsbedürftig: die Armaturen der Le Mans II, die dem Moto Guzzi Standardsystem entsprechen. Besonders der linke Teil dieser Bedienungselemente bedarf einiger Fingerübungen, gilt es doch an dieser Stelle, die Funktion von Fern- und Abblendlicht, der Blinker, der Hupe, der Lichthupe und der etwas weiter hinten zuschaltbaren Warnblink-Anlage zu ertasten.

Nur etwas für Langfinger: die zu weit vorgesetzten Hebel für Kupplung und Bremse. Ebensowenig funktionell, können die an der Frontverkleidung deplazierten Rückspiegel höchstens eitle Gemüter erfreuen. Mehr als den Blick zurück auf eigenen Bizeps lassen die zu eng stehenden Spiegel nämlich nicht zu. 

Über dem linken Dellorto Vergaser sitzt der Plastikhebel des nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip arbeitenden Chokes. Ob in eiskaltem oder glühendheißem Betriebszustand, stets startet der urige V-Zweizylinder mit seinen 74 PS unter asthmatischem Schnaufen seiner ungefilterten Vergaser und mit lautem Rasseln des Bosch-Elektrostarters äußerst zuverlässig. Im Stand schüttelt sich der mit 83 Milimetern Bohrung und 78 Millimetern Hub leicht kurzhubige Zweizyilnder bis etwa 2000/min, um erst ab dieser Drehzahl geschmeidigen Rundlauf einzuleiten. Die längs zur Fahrtrichtung drehende Kurbelwelle kippt das Fahrzeug bei der Gasannahme nach rechts. Wer sich im Schrittempo durch enge Autoschluchten schlängelt, sollte dies beachten und abrupte Gasstöße mit gezogener Kupplung tunlichst unterlassen. Die Zweischeiben-Trockenkupplung erfordert eine kräftige Hand und läßt sich nicht sonderlich angenehm dosieren. Was aber unbedingt vonnöten wäre, um im ersten Gang zügig vom Fleck zu kommen. Diese Getriebestufe ist nämlich ziemlich lang übersetzt, und der Motor entwickelt in niedrigen Drehzahlen nicht die Kraft, die man von einem Triebwerk dieser Bauart erwarten dürfte.


Trotz offener Vergaser und außreichender Kurbelwellenschwungmasse entfaltet die MOTORRAD-Testmaschine erst ab 4500/min verwertbare Kraft und ließ die Test-Mannschaft an den Vorzügen des Zweizylinder Prinzips zweifeln. Offensichtlich erhielt die Le Mans II, um ihrem sportlichen Ruf gerecht werden zu können, schärfere Steuerzeiten als die Tourenmodelle, die zusammen mit überarbeiteten Ein- und Auslaßkanälen und geänderter Vergaserbestückung die Spitzenleistung  optimieren. Der Durchzug aus geringen Drehzahlen im Verein mit einer leisen Auspuff-Anlage verschlechtert sich jedoch.
Ein Indiz für erhebliche Ventilüberschneidungen, ein Merkmal scharfer Steuerzeiten, mag das fehlende Bremsmoment des Motors sein, das die Maschine nach Schließen der Vergaserschieber nicht in dem Maße verzögert, wie sonst von Guzzi gewohnt. Um den Beweis antreten zu können, 

Oben: Unter den gut ablesbaren Instrumenten sind acht Kontrolleuchten plaziert. Schlecht beleuchtet, lassen sie sich nur mühsam ablesen.
Links: Die Scheibe der Frontverkleidung verzerrt durch ihre Krümmungen den Blick auf die Straße außerordentlich. Bei normaler Sitzposition blickt der Pilot über die Scheibe.

Unten: Die komplett ausgestattete Le Mans II wirkt nieder und äußerst gestreckt.

der Gaswechsel der Le Mans II sei auf eine laute, leistungsfreudige Auspuffanlage ausgerichtet, montierte MOTORRAD einen LaFranconi-Auspuff, den Moto Guzzi als Umrüstteil anbietet und der von einigen TÜV-Stellen in Deutschland abgenommen wird. Die Standard-Hauptdüse (140) fand durch eine 150er Ersatz. Die Le Mans II gab sich wie verwandelt: Verwertbare Leistung lag schon ab 3000/min an und machte flottes Beschleunigen möglich. Mit der Serienbestückung kann die Le Mans II freilich nur in höheren Drehzahlregionen begeistern. Hat der Drehzahimesser die 5000er Marke überschritten, schießt die Maschine wie eine Kanonenkugel davon, mit urwüchsiger Kraft und beinahe gewalttätig. 


Das ist nicht die geschmeidige Leistungsentfaltung einer Honda CB 900 Bol d'Or, das ist brutale Explosion, wie sie nur großvolumige Zweizylinder realisieren. Dabei macht der Motor keinen Hehl daraus, daß vergleichsweise antiquierte Mechanik diese PS freisetzt. Da rattert die Duplex-Steuerkette, die auch die Ölpumpe antreibt. da nageln vier Stößel, hämmern Kipphebel gleicher Anzahl, und alles zusammen addiert sich mit steigender Drehzahl zu einer erschreckenden Geräuschkulisse, die den Fahrer 8000/min als Schmerz und Schaltgrenze festlegen läßt. Doch selbst die Pause zum Einlegen des nächsten Ganges verläuft nicht ohne akustische Untermalung, da das etwas hakige und mit langen Schaltwegen arbeitende Getriebe die Verzahnung zweier neuer Radpaare, vor allen Dingen der zweiten und dritten Stufe, vernehmlich kundtut.


 
Moto Guzzi 850 Le Mans II: Technische Daten
Motor
Fahrtwindgekühlter Zweizylinder-Viertakt-V-Motor. Je zwei Ventile über kettengetriebene untenliegende Nockenwelle, Stoßstangen und Kipphebel betätigt. Bohrung x Hub: 83 x 78 mm, Gesamthubraum 844 cm3 , Verdichtung 10,2; Nennleistung 54 kW (74 PS) bei 7700/min, max. Drehmoment 73 Nm (7,4 mkp) bei 6500/min. Mittlere Kolbengeschwindigkeit pro 1000/min 2,6 m/s. Einteilige Kurbelwelle, gleitgelagert. Druckumlaufschmierung. 3 Liter Mototöl Castrol Formula RS.

Vergaser
Zwei Dellorto-Rundschiebervergaser 36 mm. Kein Luftfilter.

Elektrische Anlage
Batterie/Spulenzündung. Wechselstromgenerator 12 V 280 Watt. Batterie 12 V 21 Ah.

Kraftübertragung
Zweischeibentrockenkupplung, Klauengeschaltetes Fünfganggetriebe mit Elektrostarter, iprim/isec 1,235/4,714. Geschwindigkeit im letzten Gang pro 1000/min 27,76 km/h.
Fahrwerk
Doppelschleifenrohrrahmen, Unterzüge abschraubbar. Hydraulisch gedämpfte Teleskopgabel vorn, Federweg 125 mm, Standrohrdurchmesser 35 mm. Hydraulisch gedämpfte Federbeine hinten, Federweg 125 mm, Federn dreifach einstellbar. Teleskopgabel und Hinterradschwinge in Kegellager geführt. Radstand 1490 mm, Lenkkopfwinkel 62 Grad, Nachlauf 110 mm.

Räder/Bremsen
Bereifung vorn 4.10 V 18, hinten 4,25/85 VB 18 Dunlop K 91. Abrollumfang 2,02 m. Hydraulisch betätigte Scheibenbremse vorn und hydraulisch betätigtes Integralbremssystem (linke Scheibe vorn und Scheibe hinten), vorn 300 mm, hinten 250 mm.

Abmessungen/Gewichte
Gesamtlänge 2200 mm, Lenkerbreite 580 mm, Sitzhöhe 770 mm, nutzbare Sitzbanklänge 640 mm, Wendekreis 4500 mm, Gewicht vollgetankt mit Werkzeug und Öl 243 kg, davon vorn 124 kg, hinten 119 kg (51,0/49,0%). Zulässiges Gesamtgewicht 430 kg. Tankinhalt 22,7 Liter, davon 4,5 Liter Reserve.

Wartung
500, 1000, 3000,5000 km, dann alle 5000km.

Preis:
10 500 Mark.

Importeur:
Deutsche Motobecane GmbH, Aachener Straße 23, 4800 Bielefeld 14.

Maximales Fahrvergnügen vermittelt indes das überaus steife, durchweg aus stabilen, fast immer geraden Rohren gebildete Fahrwerk der Le Mans II. Wegen des tiefen Schwerpunkts des Motors bleibt das Motorrad trotz des langen Radstands und der auf Hochgeschwindigkeit ausgelegten Geometrie auf Landstraßen bis 100 km/h überaus handlich. Spielerisch kann der Fahrer Schräglagen-Wechsel einleiten und dank der großen Bodenfreiheit auch konsequent weiterführen. Die Maschine setzt erst mit den klappbaren Fußrasten auf, wenn die Reifen ihre Haftgrenze ohnehin fast erreicht haben. Zumal das Motorrad auch bei Topspeed absolut sicher auf der Straße liegt, die straff abgestimmte Federung und Dämpfung an Gabel und Federbeinen es bombenfest auf dem Asphalt halten. Auf sehr schlechten Strecken mit Frostaufbrüchen und tiefen Rillen leiten diese Fahrwerkselemente die harten Stöße natürlich beinahe ungefiltert an den Fahrer weiter. Um komfortabel zu sein, besitzt die Le Mans II einfach zu wenig Federweg.

Dies unterbindet aber Lastwechsel- Reaktionen des Kardanantriebs; die Guzzi hebt sich beim Beschleunigen nur wenig aus der Federung und sackt beim Gasschließen nur minimal zusammen. Das Integral- Bremssystem, ein Moto Guzzi- Patent und an allen V-Modellen installiert, bedarf nur kurzer Eingewöhnungszeit. Mit dem Fußbremshebel wird über die hintere Scheibenbremse und die linke vordere Scheibe die Hauptbremskraft aufgebaut, die konventionell betätigte, rechte vordere Scheibe dient lediglich der Bremsunterstützung. 
 
Lob...         ...und Tadel
-Zuverlässiger
 Motor
-Stabiles
 Fahrwerk
-Hervorragendes
 Bremssystem
-Komplette
 Ausstattung
-Wenig Komfort
-Hakiges
 Getriebe
-Schlechte
 Lackqualität
 

Die Bremskraft- Verteilung an die vordere und hintere Scheibenbremse bleibt immer gleich, orientiert sich also nicht an der dynamischen Lastverteilung.
Um ein Wegschmieren des Vorderrads auf glattem Untergrund zu verhindern, gliederte Moto Guzzi ein Regelventil in den Bremsenkreislauf ein, das zuerst Bremskraft an der Scheibe hinten aufbaut und ab 13 bar Druck die vordere zuschaltet. Die Moto Guzzi 850 Le Mans II geriet zu einem kompromißlosen Sportgerät, hart, unkomfortabel, mechanisch laut und auch nicht gerade billig. Was aber die Namensgebung rechtfertigt, ist das unglaublich stabile Fahrwerk, Superbremsen und ein Schuß Originalität, wie es einem Motorrad dieser Klasse gut zu Gesicht steht: eine absolute Fahrmaschine - und damit eine typische Italienerin. Darüber hinaus zeigte sie sich im MOTORRAD-Testbetrieb als ausgesprochen zuverlässig. Langweiliger und uniformer Konkurrenz aus Japan hat sie also einiges entgegenzusetzen.

Moto Guzzi 850 Le Mans II: Meßwerte
Beschleunigung
Werte für zwei Personon in Klammern, Schaltdrehzahl 8500/min
0- 40 km/h ..... 1,7 ( 2,3)s
0- 60 km/h ..... 2,5 ( 3,8)s
0- 80 km/h ..... 3,5 ( 5,0)s
0-100 km/h ..... 5,3 ( 7,0)s
0-120 km/h ..... 7,1 ( 9,3)s
0-140 km/h ..... 9,6 (12,5)s
0-160 km/h .... 13,2 (17,8)s
0-180 km/h .... 18,7 (28,5)s
0-400 m ....... 13,6 (14,9)s
0-800 m ....... 25,4 (27,7)s

Durchzugsvermögen
im 3.Gang
40- 60 km/h .... 3,3 ( 4,8)s
40- 80 km/h .... 5,5 ( 7,4)s
40-100 km/h .... 8,3 (10,8)s
40-120 km/h ... 11,0 (14,3)s
40-140 km/h ... 13,5 (17,8)s
im 4.Gang
40- 60 km/h .... 5,5 ( 6,5)s
40- 80 km/h .... 8,8 (11,2)s
40-100 km/h ... 12,0 (15,5)s
40-120 km/h ... 15,8 (21,0)s
40-140 km/h ... 19,9 (27,2)s
40-160 km/h ... 24,0 (34,2)s
im 5.Gang
60- 80 km/h .... 4,7 ( 7,0)s
60-100 km/h .... 8,5 (11,7)s
60-120 km/h ... 13,2 (18,5)s
60-140 km/h ... 20,0 (29,5)s
60-160 km/h ... 27,2 (44,7)s
Höchstgeschwindigkeit
zwei Personen ..... 183 km/h
bei 6590/min
solo sitzend ...... 197 km/h
bei 7100/min
solo liegend ...... 204 km/h
bei 7350/min
(Temperatur 14°C, 0,5m/s Rückenwind)

Bremsverzögerung
 50 - 0 km/h ....... 13,2 m
100 - 0 km/h ....... 45,2 m
130 - 0 km/h ....... 72,3 m

 
 

Tachometerabweichung
Anzeige/effektiv
 50 ....... 48km/h
 80 ....... 77km/h
100 ....... 95km/h
130 ...... 120km/h
209 ...... 107km/h

Drehzahlmesserabweichung
Anzeige/effektiv
3000 .... 2850/min
5000 .... 4700/min
7000 .... 6700/min

Nahfeldgeräuschmessung
0,5 m Abstand ab Auspuffende und 45° zu Fahrbahn/Fahrzeug bei 3/4 Nenndrehzahl
......... 102 db(A)

Kupplungshandkraft
Kraft ..... 110 N

Verbrauch
Superbenzin
Landstraße, Schnitt
70 km/h ... 7,2 Liter/100km
Autobahn, Schnitt
150 km/h .. 8,0 Liter/100km
Testverbrauch
........... 7,6 Liter/100km
Hans-Peter Leicht